Thursday, November 16, 2006

NZZ Folio 11/06: Besuch bei Amazon in Bad Hersfeld

Das Chaos-Lager

Wer im Internet bei Amazon ein Buch bestellt, schickt im deutschen Bad Hersfeld einen Picker auf eine weglängenoptimierte Einsammelroute.

Von Burkhard Strassmann

Nachts, wenn die Menschen mit bläulichen Gesichtern vor ihren Computern sitzen, gehen viele von ihnen in Wirklichkeit einkaufen. Ordern Bergkäse, einen seltenen Whiskey, Winterreifen. Vielleicht eine CD, ein Rasierwasser, Kopfwehpillen. Oder den neuen Grass. Kann gut sein, dass sie auch bei Amazon vorbeischauen. Ist sogar ziemlich wahrscheinlich. Immerhin handelt es sich um eines der grössten Internetwarenhäuser. Im Angebot hat es weit mehr als nur die Bücher, mit denen Jeff Bezos 1995 startete. Auch die Abteilungen Elektronik, Küche, Haushalt, Garten und Körperpflege gibt es heute. Vor ein paar Monaten hat amazon.de, das die Schweiz, Österreich und Deutschland versorgt, mit Sportartikeln angefangen. In den USA verhökern sie sogar schon Lebensmittel. Und Autos!

Ich sitze mit bläulichem Gesicht vor dem Rechner und kaufe ein. Egal was, denn morgen fahre ich nach Bad Hersfeld, zu amazon.de. Ich will wissen, was passiert, wenn ich bei denen was bestelle. Wie die das schaffen, manche Artikel binnen 24 Stunden zu liefern. Und was passiert, wenn der Weihnachtsirrsinn ausbricht.

Um es der Firma nicht zu leicht zu machen, will ich zwei ganz unterschiedliche Artikel aussuchen. Einer ist klar, meine Liebste soll eine CD von der im Augenblick schönsten käuflich zu erwerbenden Stimme haben: Jeff Buckley. Ein paar Klicks, rein in den Einkaufswagen, hin zur Kasse, praktisch schon unterwegs, das Teil. Doch was dann? Ich manövriere durch den E-Katalog. Eine Bratpfanne? Eine von den zweihundert angebotenen Espressomaschinen? Eine Solarlampe für draussen? Oder etwas für den Körper? Nach wildem Klicken gerate ich in einen Bereich, der mich mit Gleitgel, Handfesseln und allseits sich schüttelnden Gummipenissen verlegen macht. Ich bestelle Ersatzbürsten für meine elektrische Zahnbürste.

Bad Hersfeld also. Leipzig wäre auch gegangen, da ist sogar ein funkelnagelneues Amazon-Lager, aber dort geht es nicht so irre zu wie in Bad Hersfeld. Von hier werden nämlich an manchen Tagen bis zu 190 000 Artikel verschickt. Bad Hersfeld war vor acht Jahren, als amazon.de loslegte, eine strategische Entscheidung. Eigentlich kennt man das Kaff nur von Leuten, die es am Magen oder am Darm haben. Doch nach der Wiedervereinigung wurde der Kurort im Hügelland zwischen Kassel und Fulda unversehens geographischer Mittelpunkt des Landes. Und somit zum Nabel nicht nur Deutschlands, sondern auch Mitteleuropas. Gewerbegebiet am Schloss Eichhof: Amazon ist hier nicht allein. Auch andere Firmen, die etwas zu verschicken haben, siedeln am Nabel, etwa der Buchgrosshändler Libri. Die Post ist auch nicht weit. Alles Logistikdienstleister. Heute gibt es in Bad Hersfeld sogar eine Berufsakademie für Logistik. Die einzelnen Unternehmen unterscheiden sich eigentlich nur durch das Firmensignet. Ansonsten bietet sich dem Besucher stets das gleiche Bild: eine grosse Kiste mit Löchern, über denen Zahlen stehen. Es gibt Eingangslöcher und Ausgangslöcher, an manchen stehen rücklings Lastwagen parkiert.

Drinnen Regale und Gabelstapler und Hubwagen und Fliessbänder. Und Überwachungskameras, damit weniger geklaut wird. Bei Amazon gibt es für die Mitarbeiter darüber hinaus noch ein Security-Portal wie beim Flughafen, das auf geklautes Metall reagiert. Besucher müssen vor Eintritt ihre Handys abgeben oder registrieren lassen, damit sie nicht in Verdacht geraten, wenn sie mit einem Handy wieder rauskommen.

Und dann gibt es bei Amazon noch Herrn Niewerth. Paul Niewerth ist Geschäftsführer der Amazon Logistik GmbH und, wie es sich für einen Angestellten einer amerikanischen Firma gehört, ununterbrochen stolz und begeistert, für so eine tolle Firma zu arbeiten. Er hält manchmal Vorträge vor Logistikern, weil sein Lager nämlich kein stinknormales Lager ist, sondern ein etwas verrücktes Lager.

Eigentlich sollte man ja annehmen, hier stünde ein Regal, da kommen oben die Satellitenschüsseln rein, in die Mitte die CD-Player und unten vielleicht die Teichfilter. Flattert ein Auftrag herein, schnappt sich jemand so eine Schüssel, packt sie ein, Briefmarke und Adresse drauf und los. Aber hier ist alles ganz anders.

Erst kommt, zum Beispiel, eine Wagenladung neuer, nie gesehener Hightech-Turbo-Bass-Ohrhörer an. Die Turbohörer werden abgeladen und registriert. Gewogen. Automatisch vermessen. Kriegen einen Strichcode. Kommen in eine schmuddelige gelbe Plastikbox. Sausen über Förderbänder durch Hallen und Stockwerke zum Picktower. Das ist ein viergeschossiges Regallager, in dem Menschen mit der Berufsbezeichnung Stower arbeiten. Die schnappen sich die Ohrhörer, latschen durch die Regalreihen und suchen Lücken. Wo ein Lücke ist, wird was reingestopft. Dieses Reinstopfen nennt Herr Niewerth «Verheiraten».

Der Ohrhörer wird mit dem Fach Nummer P-1-E21D105 verheiratet, wobei es sich eigentlich um Polygamie handelt, denn hier liegen auch schon ein Unterwassergehäuse für Fotoapparate, ein Hörbuch für Kinder, Druckerpatronen, Ersatzbeschriftungsrollen, ein Kuschel-Marienkäfer und ein klitzekleines rundes Kinderbuch. Die nötige Hochzeitsformalität erledigt der Stower mit links: einmal seinen Handscanner über den Strichcode der Ohrhörer ziehen, einmal über den Code des Regals, fertig. Schon weiss der Zentralrechner, wer da mit wem und wo gepaart wurde.

Wenn ein Laie durch solch ein Drunterunddrüber-Lager wandert, erinnert ihn das am ehesten an einen Flohmarkt. Und er denkt: chaotisch! Und so lautet auch der Terminus technicus der Logistikfachleute: Dies ist offiziell ein «chaotisches Lager». Viele Firmen nutzen heute diese Lagertechnik, denn sie spart Platz und Planungsaufwand. Früher musste man schätzen, wie das Original-WM-Rasen-Saatgut wohl laufen wird, und entsprechend Regalplatz reservieren. Altgedienten Lageristen fiel meist nach einigem Nachdenken ein, wo gewisse Ladenhüter lagen. Heute wird in die Fächer gestopft, was reinpasst. Den Überblick behält der Computer.

Bis hierher hatten wir das Einräumen. Nun kommt das, was im Lager passiert, wenn ein Kunde mit einem Klick einen Auftrag erteilt hat: das Ausräumen, auch «Picken» genannt. Die dazugehörige Berufsbezeichnung heisst Picker. Der Picker rennt mit einer Pickliste durch das Lager und sammelt Bestellungen ein. Der Computer, der alles weiss, vermeidet jedes weitere Chaos. Er hat die Pickliste mit den Lagerorten zusammengestellt und empfiehlt eine weglängenoptimierte Einsammelroute.

Der Computer kennt auch Lagerorte, die sich ausserhalb des Picktowers befinden. Wo ist der neue Roman von Murakami? Wo wurde die Palette «Erde und Weltall – 1000 Fragen und Antworten» abgestellt? Und hatten wir nicht massenhaft Red Hot Chili Peppers Greatest Hits bekommen? Das sind alles sogenannte Schnellläufer, also Ware, die sehr oft und schnell umgeschlagen wird und deshalb gar nicht erst in Regale kommt. Anderes passt der Grösse wegen nicht in die Fächer und kommt so um die Hochzeit herum. Wie das angeblich grösste Buch der Welt, ein Trumm über Muhammad Ali – 34 Kilo schwer, 792 Seiten, über 3000 Fotos. Oder Regenfässer für den Garten. «Unsortables» heisst Sperrgut unter Lageristen.

Herr Niewerth führt mich in eine Zone, da stehen auf abgewetztem Mobiliar ältere Computer und viele Drucker herum. Hier werden die Picklisten erstellt. Ein enorm wichtiger Ort. Herr Niewerth, der zwar ununterbrochen stolz und begeistert, aber nicht naiv ist, kennt die Grenzen seines und seiner Firma Glücks. Hinter den Grenzen droht der GAU. «Stellen Sie sich vor, in Q 4 warten hundert und mehr Picker im Picktower, und es gibt keine Picklisten. Das wäre der GAU!» Q 4, muss man wissen, ist das vierte Quartal, also für Amazon das Weihnachtsgeschäft. Der Wahnsinn! Die Leute arbeiten dann rund um die Uhr, im weiten Umkreis um Bad Hersfeld gibt es keine arbeitslosen Lageristen mehr, und die Chefs haben Dollarzeichen in den Augen, weil in Q 4 ein Drittel des Jahresumsatzes gemacht wird.

Der geheimnisvollste Ort im ganzen Lager indes ist ein Gleisgewirr im ersten Stock, das an einen Güterbahnhof erinnert. Hier kommt zusammen, was getrennt gepickt wurde, aber zusammengehört. Dass sich eine Madonna-CD, eine Packung Muskelaufbaunahrung und ein Messerset, vergoldet, gemeinsam bestellt, auch irgendwo treffen, ist ganz und gar nicht trivial. Die liegen eventuell in verschiedenen Etagen im Picktower oder wer weiss wo. Landen in irgendwelchen gelben Sammelboxen. Und müssen letztlich doch alle bei einem Packer landen, um in einem Paket verschickt werden zu können.

Das mathematische Verfahren ist ein bisschen tricky: Schon die scheinbar chaotischen Pickinglisten sind im Hinblick aufs Packing zusammengestellt. Am Ende haben jedenfalls die Packer viel zu tun, schon weil sie so unterschiedliche Artikel einzupacken haben. Nur kleine Dinge ähnlicher Form werden in zwei kleinen Anlagen vollautomatisch verpackt. Amazon hat hin und her gerechnet und alle möglichen Prozesse im Lager simuliert – heraus kam stets, dass Menschen fast immer besser und billiger sind als Automaten.

Bevor das versandfertige Paket schliesslich in einen bereitstehenden Postcontainer fällt, wird es noch mal gewogen. Weicht der Soll- vom Istwert ab, langt ein metallener Arm übers Transportband und kickt die Sendung in einen separaten Korb. Zwecks Nachkontrolle. Als mir Herr Niewerth das automatische Wiegen vorführen will, ereignet sich ein kleiner Zwischenfall: Das Band steht still, weil der Server ausgestiegen ist. Fünfzehn Minuten später geht es weiter, aber man kriegt eine Vorstellung vom GAU: Was, wenn der Rechner plötzlich alles vergessen hätte? Kein Mensch würde in diesem chaotischen Lager je wieder etwas finden.

Fast hätte ich es vergessen: Wo zwischen Picken und Packen sind eigentlich gerade meine CD und die Ersatzzahnbürsten? Ein Büromitarbeiter von Herrn Niewerth taucht in die Tiefen seines Rechners. Sorry, für die CD gibt es noch kein Okay der Bank. Erst mal wird das Geld eingezogen, bevor sich in Bad Hersfeld eine Hand rührt. Und die Zahnbürsten? Nochmals sorry! Die hatte ich, ohne es zu bemerken, gar nicht bei Amazon bestellt. Sondern bei einem der zahllosen Unteranbieter, die auf dem sogenannten Marketplace ihre Produkte feilbieten. Ein Handelsunternehmen in 52525 Heinsberg wird mir – hoffentlich – die Bürstchen schicken.

Etwas enttäuscht ziehe ich von dannen. Immerhin habe ich etwas gelernt. Auch beim Online-Einkauf gelten die beiden Hauptsätze des Handels: Ohne Moos nix los. Und: Immer schön aufs Kleingedruckte achten!

Burkhard Strassmann ist Autor der «Zeit», Schwerpunkt Wissen, und lebt in Bremen. Er hat sich kürzlich einen Staubwedel gekauft.

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