Thursday, October 19, 2006

F.A.Z., 07.07.2006: „Haben Sie jemals in Detmold gelesen?“ Rezension von literaturportal.de

Die deutsche Kulturpolitik stand noch nie unter Avantgardeverdacht, und so mag man es lediglich wohlwollend belächeln, wenn jetzt das Deutsche Literaturarchiv Marbach, das Goethe-Institut, der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien und weitere Institutionen das Rad neu erfinden möchten mit der Idee, unter der Adresse Literaturportal.de ein Literaturportal im Internet zu schaffen. Vielleicht hätte man den Begriff „Literaturportal“ vorsichtshalber einmal googeln sollen, man hätte bereits ein gutes Dutzend sehr engagierter Angebote gefunden. So weit, so unoriginell. Leider wurde für die Entwicklung dieses speziellen Rades eigens eine Kommission gebildet, mit dem Ergebnis, daß es nicht wenige Ecken und Kanten aufweist.

Das mag damit zusammenhängen, daß sich niemand der Macher darüber informiert hat, wie das Internet eigentlich funktioniert. Ein Portal kann sich im Internet im wesentlichen auf drei verschiedene Funktionsmechanismen stützen: Redaktion, Automation oder Schwarmintelligenz. Das Literaturportal möchte sich gerne aller drei Mechanismen bedienen, ohne zu wissen, wie, und bleibt am Ende mit fast leeren Händen zurück. Dabei hatte man mit 150.000 Euro Spielgeld allein vom Staatsminister und vielen klugen Köpfen doch immerhin mehr Startkapital als viele andere Gründer der Dotcom-Welt.

Originärer Mehrwert

Die klassische Vorgehensweise eines Portals ist die Redaktion, was soviel heißt wie: denkende Menschen kreieren für das Portal Inhalte und betreuen deren Organisation und Präsentation. Ein erfolgreiches Beispiel dafür wäre das Rezensionsmagazin literaturkritik.de. Dahinter stecken enorm viele Arbeitsstunden, die einen originären Mehrwert produzieren, der die Seiten beim Leser erfolgreich macht.

Der redaktionelle Mehrwert des neuen Literaturportals nimmt sich spärlicher aus als der eines Kundenmagazins beim Lebensmittelhändler. Die immerhin etwa fünfhundert Autorenbiographien sind offensichtlich nach dem bei Studenten sehr beliebten Copy-and-paste-Verfahren entstanden; Hauptquelle dafür war die ebenfalls bei Studenten beliebte Online-Enzyklopädie Wikipedia, komplett mit allen Fehlern und der offenen Frage nach dem Urheberrecht. Das Kernstück der Seite, der Veranstaltungskalender, ist ein längst anderweitig veröffentlichtes Angebot von kulturkurier.de, und, als deutschlandweites Angebot, den jeweiligen lokalen Informationsmagazinen hoffnungslos unterlegen.

Vorgaukelung redaktioneller Arbeit

Ebenfalls eher eine Vorgaukelung redaktioneller Arbeit stellt die Rubrik „Neuerscheinungen“ dar. Jede Woche werden hier vier willkürlich ausgewählte Bücher (keineswegs nur deutsche Literatur) vermittels derart unbedarfter Informationshäppchen vorgestellt, daß man im Direktlink zum Online-Buchhändler noch den größten Informationsbeitrag sehen möchte. In kaum zehn Jahren wird man hier etwas mehr als zweitausend klägliche Buchtips haben (nicht finden, eine Suchmöglichkeit gibt es nicht) - bei literaturkritik.de gibt es schon jetzt achttausend, von frei zugänglichen Internetarchiven großer Tageszeitungen zu schweigen. Alles ausführliche Rezensionen, wohlgemerkt.

Im Gegensatz zur Redaktion setzt die Automation vor allem auf ein Konzept. Als Sekundärverwerter bieten automatisierte Portale lediglich einen anders organisierten Zugang. Neuere Bibliotheksportale etwa funktionieren so, die gleichzeitig in verschiedenen Katalogen suchen, automatische Fernleihen aufgeben und sogar den Zugang zu Volltextdatenbanken anbieten, oder Seiten wie Google-News, die selbst keinerlei Inhalte erstellen, sondern nur finden.

Merkwürdige Archivfunktion

Die spärliche Automation auf literaturportal.de wurde ausdrücklich erst auf die allgemeine Kritik hin eingeführt. Mittlerweile kann man von den Porträts direkt zum Katalogeintrag des jeweiligen Autors im Marbacher Literaturarchiv gelangen. Das ist ein nettes Angebot und für den Forscher allemal interessanter als die merkwürdige Archivfunktion des Veranstaltungskalenders, die Auskunft darüber ermöglicht, welche Lesungen im März letzten Jahres im evangelischen Gemeindezentrum Detmold stattgefunden haben.

Schwarmintelligenz-Portale zuletzt bauen auf ein Zusammenspiel aus automatisierter Organisation und dezentraler Redaktion, so wie Wikipedia. Deren Gründer stellten, vereinfacht gesagt, nur die Vermittlungsstruktur zur Verfügung, und zwar für jedermann. Seitdem warten sie, schwankend zwischen Zuversicht und Zweifel, darauf, daß sich der Weltgeist manifestiert. Ähnlich stellen sich das wohl die Macher des Literaturportals vor und setzen vor allem auf die Arbeit der anderen, wobei der Schwarm, von dem sie sich Intelligenz erhoffen, die Literaturhäuser und literarischen Gesellschaften, die Buchhandlungen und Verlage sind. Die sollen nun fleißig das System füttern, sich selbst in die Linklisten einschreiben und den Veranstaltungskalender bestücken.

Gröbere Fehler stillschweigend beseitigt

Ob das geschehen wird, ist mehr als fraglich, denn der Schwarm ist natürlich nicht da, wo er erwartet wird. Er manifestiert sich außerhalb des Veranstaltungskalenders, außerhalb des Literaturportals, in einem anschwellenden Chor der kritischen, bisweilen auch bissigen Stimmen auf den Literaturblogs und den Foren der vielen anderen Literaturportale, die genüßlich auf Fehler und Unzulänglichkeiten des neuen Projekts hinweisen. Immerhin, auch davon läßt sich lernen, und so werden momentan die gröberen Fehler stillschweigend und in großer Hektik beseitigt.

Der Autor Arno Reinfrank beispielsweise, von dessen Ableben im Jahr 2001 sein Porträt bis vor kurzem noch nichts wußte, ist nach der Überarbeitung auch für das Literaturportal gestorben. Bei Robert Gernhardt hat man sich dafür gleich etwas mehr beeilt, er ist nicht nur bereits tot, sondern schon im bürokratischen Himmel angekommen: „Im Juni 2006 ist Robert Gernhardt nach schwerer Krankheit gestorben. Seinen Nachlaß hat das Deutsche Literaturarchiv Marbach übernommen.“ Das stimmt wenigstens zur Hälfte, die Zeichnungen bleiben ja in Frankfurt.

Von Sebastian Domsch, Text wie auf FAZ.NET

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